Aus Liebe zum Regelbruch

Interview mit Editorin Gesa Jäger – Gewinnerin des Filmstiftung NRW Schnitt Preis Spielfilm 2014 für Love Steaks, Regie: Jakob Lass.
Oliver Baumgarten: Love Steaks ist ausschließlich aus Improvisationen entstanden. Was bedeutet dies für die Montage, wie viel Material hast Du bekommen und wie hat es ausgesehen?
Gesa Jäger: Insgesamt waren es 78 Stunden Rohmaterial, die mich jeden Tag aufs Neue überrascht haben. Love Steaks ist zwar improvisiert gedreht, aber mit einem klaren Rahmen: Es gab 18 sogenannte „Skelett-Szenen“, die im Vorfeld mit je ein bis zwei Sätzen beschrieben waren, aber ohne ausformulierte Dialoge. Ein möglicher Verlauf der Geschichte war also vorgezeichnet, auch wenn ich darum gebeten hatte, diese handlungsvorantreibenden Szenen für mich unkenntlich zu machen. Ich wollte vorher nichts wissen und habe mich wie ein Zuschauer auf das Material eingelassen, es in Drehreihenfolge gesichtet und dabei wie bei einem Dokumentarfilm Material gesammelt und daraus Handlungseinheiten, also Szenen, gebildet.
Das Material pro Szene sah dann so aus, dass meistens ein oder zwei Takes eines Handlungsablaufs existierten, die ich erstmal roh verdichtet habe. Wenn es zwei oder mehr Takes gab, waren sie nie gleich, sondern immer Varianten, bei denen Jakob Lass den Schauspielern andere Impulse gegeben hat. Es war also auch häufig so, dass sich Dinge ausgeschlossen haben. Zum Beispiel gab es viele verschiedene erste Begegnungen zwischen Clemens und Lara – da war es dann schmerzhaft, sich für das „du schwitzt“ im Fahrstuhl zu entscheiden, weil wir wussten: es gibt noch mindestens drei andere tolle Momente.
Gab es Drehmaterial von Szenen, die letztlich einen ganz anderen Handlungsverlauf erlaubt hätten?
Was es auf jeden Fall gegeben hat, war die Möglichkeit, die Beziehung zwischen den beiden anders zu charakterisieren oder ihr einen etwas anderen Verlauf zu geben. Das Machtverhältnis zwischen ihnen, das irgendwann kippt, ist im Material noch in vielen weiteren Szenen Thema, die wir teilweise auch geschnitten haben. Das Spiel von Dominanz und Unterwerfung, was im Film zwar spürbar ist, hätte eine deutlich größere Rolle einnehmen können – das hätte aber meiner Meinung nach die Liebe von Clemens zu Lara unglaubwürdiger gemacht. Es gab auch noch sehr viel Material von Nebenfiguren, von Mitarbeitern des Hotels, aber wir haben irgendwann gemerkt, dass man sich nicht zu weit von Clemens und Lara entfernen möchte. Ich denke, der Film hätte mit dem Material eine andere Färbung haben können, aber es wäre immer eine Liebesgeschichte eines völlig ungleichen Paares in einem Hotel geblieben.
Die Verwendung von Jump Cuts wurde in Love Steaks zum Gestaltungsprinzip. Welche Funktion haben sie erfüllt und wie bist Du in der Gestaltung einzelner Szenen vorgegangen?
Dass es Jump Cuts geben würde, stand schon vor dem Dreh fest und das lag an zwei Dingen: Einmal wurden wie schon gesagt von vielen Szenen nur ein oder maximal zwei Takes gedreht, so dass die Jump Cuts also die Funktion der Auslassung, der Verkürzung, des Schaffens eines Rhythmus haben, durch den die Szene „trotzdem“ funktioniert. Auf der anderen Seite passt diese Atemlosigkeit, die dadurch entsteht, wunderbar zur Betriebswuseligkeit des Hotels und auch zum Charakter von Lara. Und wer mal versucht, sich an einen Abend unter starkem Alkoholeinfluss zu erinnern, der wird auch die eine oder andere Ellipse feststellen.
Was die Gestaltung einzelner Szenen angeht, so habe ich schon beim Sichten – was Jakob und ich übrigens bewusst getrennt getan haben, damit ich mir einen ganz eigenen Eindruck vom Material verschaffen kann – grobe Zusammenschnitte erstellt von Dingen und Momenten, die ich spannend fand. Mit diesem Rohmaterial haben wir dann gearbeitet, als Jakob dazu kam. Wir haben unsere Art zu schneiden mal „skulpturierend“ genannt, weil wir tatsächlich immer mehr Material abgetragen haben, mehr Auslassungen produziert haben, bis eine Szene so war, dass sie uns gefiel.
Die Jump Cuts ergeben im Gesamteindruck des Films einen enorm organischen Fluss. Wie schwierig war es, diesen über den Film hinweg herzustellen?
Ich freue mich sehr, das zu hören. Natürlich war es ein monatelanger Prozess bis zum endgültigen Ergebnis, aber schwierig hat sich zumindest das Herstellen des Flusses nicht angefühlt. Diese Art zu schneiden war für mich – als ich es erst mal geschafft hatte, mich „locker zu machen“ – sehr lustgeleitet. Es ist viel aus einem Gefühl heraus entstanden. Der Film ist ja mit den FOGMA-Regeln (www.fogma.de) gedreht worden, und wir haben dann auch für den Schnitt solche Regeln aufgestellt. Bei diesen Regeln ging es darum, mich und uns zu befreien von den Dingen, die einem in der Ausbildung (in meinem Fall beim Fernsehen) eingebläut werden, wie zum Beispiel „keine Achssprünge“ oder „keine gegenläufigen Bewegungen“. Jakob hat mich immer wieder motiviert, loszulassen und aus dem Bauch heraus zu arbeiten. Dabei war die wunderbare Kamera von Timon Schäppi eine große Hilfe – sie war so etwas wie ein weiterer Schauspieler, der das Geschehen interpretiert und damit an vielen Stellen einen Rhythmus oder ein Tempo vorgibt.
Es gab drei Schauspieler am Set, alle anderen Menschen vor der Kamera sind Laien, die innerhalb ihrer beruflichen Positionen agiert haben. Wie sehr hat das die Arbeit am Schnitt beeinflusst?
Tatsächlich war das Hotel und damit auch die „Nebendarsteller“ so gut ausgesucht, dass es relativ selten das Problem gab, „um jemanden herum schneiden“ zu müssen. Natürlich gab es hin und wieder Kamerablicke, die man bei richtigen Schauspielern nicht hätte, manchmal war auch eine Unsicherheit im Spiel, aber alles in allem waren sie sehr überzeugend. Was aber eben auch daran lag, dass sie während ihrer Arbeitszeit im laufenden Betrieb gefilmt wurden und häufig wenig Zeit hatten, sich über die Kamera oder das kleine Team, das zum Beispiel durch die Küche flitzte, Gedanken zu machen. Diese Nebendarsteller haben wir im Schnitt beinah dokumentarisch behandelt. Dadurch sind natürlich plötzlich Fragen entstanden, die es bei einem „normalen“ Spielfilm nicht gäbe, zum Beispiel: „Wenn er sich so über seinen Betrieb äußert, bringen wir ihn dann in Schwierigkeiten, wenn wir das zeigen?“ Oder: „Person X sagt hier ziemlich üble Dinge über Person Y, das müssen wir kürzen, auch wenn es für den Film toll wäre, aber so ist es zu verletzend.“ Die Verantwortung den Darstellern gegenüber war viel größer als bei einem reinen Schauspielerfilm.
Love Steaks hat vergangenes Jahr die wichtigsten deutschen Nachwuchspreise gewonnen, die aber sämtlich an die Regie gingen. Ist das Gelingen des Films bei einer solchen Arbeitsweise aber nicht mehr denn je auch auf die Montage zurück zu führen?
Das stimmt so nicht ganz, in München sind auch die Produktion, das Drehbuch und die Schauspieler ausgezeichnet worden und nun hatte ich ja die Ehre, den Schnitt-Preis bei Filmplus entgegen zu nehmen, ich fühle mich als Editorin also durchaus gesehen. Ich stimme zu, dass die Montage bei dieser Art zu drehen einen stärkeren Einfluss auf das Gesamtergebnis hat als bei anderen, konventionell aufgelösten Filmen. Das liegt einmal daran, dass die Arbeit an der Dramaturgie einen noch größeren Raum im Schnittprozess einnimmt, man also mehr Zeit darauf verwendet, Wege zu finden, um die Geschichte schlüssig und emotional dicht zu erzählen. Es gibt deutlich mehr Entscheidungen zu fällen. Jakob und ich konnten im Montageprozess dem Film ein endgültiges Gesicht geben, das vorher noch nicht richtig zu erkennen war. Aber natürlich ging das nur so gut, weil sowohl in der Vorbereitung als auch am Set so tolle Ergebnisse erzielt wurden. Sodass wir im Schnitt den Luxus hatten, aus dem Vollen zu schöpfen.
Du hast mit dem Film Dein Diplom gemacht. Sehnst Du Dich jetzt nach einem konventionell aufgelösten Fernsehfilm oder hättest Du nichts dagegen, fortan als Spezialistin für improvisierte Filme gesehen zu werden?
Oha. Ich würde mich nur sehr ungern für eine der beiden Seiten entscheiden müssen, bzw. sehe auch nicht, wieso sich nicht Improvisation mit konventionell aufgelösten Szenen kombinieren lassen sollte. Tatsächlich habe ich gerade einen Film geschnitten, der etwas konventioneller gedreht war, wobei es auch dort immer wieder Raum für Improvisation gab und habe dabei noch mal gemerkt, dass ich die Frische im Schauspiel sehr schätze, wenn improvisiert wird. Diese einmaligen Momente, die entstehen, wenn jemand wirklich überrascht ist, sehe ich sehr, sehr gern. Und trotzdem ist es auch mal spannend gewesen, viel mehr Wahlmöglichkeiten zu haben, in welchem Moment ich wen sehen oder was zeigen möchte. Auf jeden Fall freue mich jetzt schon enorm auf das nächste FOGMA-Projekt!
Interview: Oliver Baumgarten